Montag, 30. Januar 2017

Ins Nirgendwo



Aus manchen Albträumen schrecke ich nicht hoch, sitze aufrecht, schwer atmend in der Dunkelheit, orientierungslos. Monster in alltäglichen Schatten erkennend, und ziehe die Knie ans Kinn, verstecke mich wieder unter der Decke und das Tropfen des Wasserhahns lässt mich vorsichtig hervorblinzeln.

Manchmal öffne ich die Augen, einfach so, und im ersten Moment weiß ich gar nicht, warum ich aufgewacht bin. Ich ziehe die Decke enger um mich, vielleicht. Doch wenige Augenblicke später kehren diese flüchtigen Bilder zurück, und sie zeigen nichts Schlimmes. Eine Vergangenheit, die ich ändern will, ein bisschen hier drehen, ein bisschen da wenden. Eine Gegenwart, die merkwürdig ist, ein Gespräch, das sie geraderückt, die Zweifel verschwinden lässt. Eine Zukunft, die verloren ist, ein falsches Bild wirft.

Ein Albtraum, aus dem ich zwar erwache, aber seinen bitteren Nachgeschmack werde ich den ganzen Tag nicht mehr los. Ein Flüstern, nach dem ich mich umdrehe, doch niemand steht hinter mir, es ist nicht mal jemand in der Nähe. Keine verdächtigen Schatten schleichen um mich, und doch höre ich meine Albträume flüstern, in flackernden Bildern.

„Woran liegt das, dass in einem Moment alles so kompliziert wirkt und die Welt sich immer schneller dreht, während sie im nächsten still steht und alles furchtbar einfach scheint?“

Statt einer Antwort kommt er einen Schritt näher und nimmt meine Hand. Ich betrachte sie, wie sie in seiner liegt, und denke, dass sie perfekt füreinander sind. Meine blassen Finger scheinen wie gemacht zu sein für seine rauhen Hände. „Ich weiß es nicht. Manchmal, da scheint es, als ob es keine Rolle spielt, wie schnell ich laufe, ich werde doch nie Schritt halten können, nicht mit dieser Zeit, nicht mit all diesen Veränderungen, die sie bereithält. Und dann wieder wende ich all meine Energie dafür auf, geduldig zu sein, still zu halten, auszuharren bis …und meistens weiß ich nicht, worauf ich warte. Wozu halte ich Schritt?“

Immer noch versunken in unsere ineinander verschlungenen Hände, denke ich über seine Worte nach. Muss ich Schritt halten? Die Welt rast ohne mich weiter, ein Karussell, aber irgendwann hört es auf, sich weiterzudrehen. Dann steht es still, ganz still. Ich könnte warten, bis jemand Geld einwirft, damit es sich weiterdreht. Aber ich kann auch selbst die Münze werfen. Niemand hält mich davon ab.

„Vielleicht ist es dann einfach, wenn ich es einfach mache.“ Ich blicke hoch und lächle ihn an. „Es sind bloß diese Nächte, immer wieder diese Nächte, voller Albträume und Schatten, manchmal schrecke ich hoch, und dann wieder wache ich bloß auf. Und ich will, dass das aufhört, es soll endlich aufhören, bitter zu schmecken, weißt du?“ Und ich spüre, wie mein Lächeln traurig wird.

Ganz langsam lässt er meine Hand los und einen Moment fürchte ich, er wird gehen. „Gib dir Zeit.“ Er musste schmunzeln kaum hatte er die Worte ausgesprochen, so lächerlich war der Gedanke. „Du kannst nicht nur Geduld mit allen anderen haben, du musst auch ein wenig geduldig mit dir selbst sein. Diese Welt, sie verändert sich täglich, ob du es willst oder nicht. Aber dein Leben, das verändert sich nur, wenn du es willst. Nur wenn du es willst. Wenn du keine Lust hast, dann versuche doch gar nicht mitzulaufen. Und wenn du laufen willst, dann renne. Egal wohin. Irgendwo wirst du ankommen.“


„Ich schwieg, völlig überwältigt, wie immer, wenn er
die geheimsten Winkel meines Herzens berührte.“
KIERA CASS | SELECTION – DIE ELITE S. 202


Nimm meine Hand und lauf mit mir durch den strömenden Regen, tanz mit mir in den Pfützen, lassen wir uns gemeinsam die Schuhe mit kaltem Wasser volllaufen und werfen lachend den Kopf in den Nacken, wenn der Donner grollt. Immer deine Hand in meiner, immer ich bei dir und du immer bei mir. Laufen wir durch den Regen ohne Unterschlupf zu suchen, lass uns Fangen spielen und Handstände probieren, lass uns leben unter grauem Himmel, mit klatschnassen Haaren am Kopf und verschmierter Wimperntusche.

Lass uns die Leute bemerken, wie sie den Kopf schütteln, wenn sie unter Schirmen an uns vorbeihetzen, an sich in der nassen Straße spiegelnden Ampellichtern auf Grün warten, gehetzt von einem Dach unters nächste huschen. Lass uns laut lachen, wenn sie die Stirn runzeln und die Kapuze tiefer ins Gesicht ziehen, die Jacke fester zuhalten, lass uns in die Pfützen springen, denen sie ausweichen.

Und dann halt still. Halt ganz still und halt mich im Arm, und hören wir die Tropfen vom Himmel fallen, der langsam dunkel wird, von Grau zu Schwarz wechselt. Hören wir zu, wo der Regen fällt, Asphalt, Baumkronen, Dächer, Fensterglas, Schirme, Kapuzen, uns. Ich mache die Augen zu vergrabe mein Gesicht an deinem Hals, und sage mir alles wird gut und es hört nie mehr auf zu regnen. Wir werden ewig in diesen Pfützen tanzen und du lässt meine Hand nie los, wenn wir durch den Regen laufen, um den Donner zu hören.

Küss mich und lass den Himmel nie mehr blau werden, lass die grauen Wolken über uns hängen, ich finde sie besser als die, die aussehen wie Schafe.

„Wirst du mit mir ins Nirgendwo laufen?“

Er bleibt mir eine Antwort schuldig. Aber es ist gut. Diese Nacht schlafe ich ein, und ich schrecke nicht hoch. Und ich öffne meine Augen nicht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen